Kleine Kartoffeln

Neulich war ich im Auto unterwegs, fuhr von einem Termin zum nächsten, ließ dabei meinen Plan fürs Abendessen Revue passieren und stellte fest, dass ich vergessen hatte, Kartoffeln vorzukochen (es sollte Bratkartoffeln und noch irgendetwas geben). Ich rief zuhause an und der beste Ehemann von allen, der im Homeoffice saß, ging ran. Die Verbindung war schlecht, ich musste ein bisschen brüllen, um gehört zu werden. Ich kam bis zu: "Könntest Du eventuell ein paar Kartoffeln aufsetzen für heute Abend?" und dann wurde die Verbindung noch schlechter und ich entschied mich, es sein zu lassen. Denn ich hätte noch anfügen wollen, wie viele ich ungefähr gerne gekocht hätte und dass es bitte möglichst kleine sein sollen und überhaupt und gleichzeitig wollte ich das nicht schreien. Also rief ich: "Ach, egal, lass einfach, ich mache nachher was anderes."

 

Als ich ein paar Stunden später wieder zuhause war und in die Küche ging, stand ein großer Topf auf dem Herd. Ich öffnete den Deckel und sah eine erkleckliche Menge an gekochten Kartoffeln, die nur darauf warteten, in wunderbare Bratkartoffeln verwandelt zu werden. Ich freute mich, war erleichtert, mein ursprünglicher Plan würde doch klappen, was mir an dem Tag mehr Leichtigkeit verschaffte, als wenn ich hätte improvisieren müssen. 

 

Ich konnte allerdings nicht umhin zu bemerken, dass sehr große Kartoffeln zwischen tw. recht kleinen Kartoffeln lagen. Mein innerer Ordungsbeauftragter (Ordnung, Präzision, Genauigkeit) meldete sich und ich verspannte mich sofort. Denn als Reaktion auf sein Auftauchen lud nur Millisekunden später auch schon mal mein Harmonieengel sein Gewehr, um ihn ins Visier zu nehmen - denn der würde es doch wohl nicht wagen, diese freundliche, liebevolle Geste mit seiner Kleingeistigkeit niederzumachen?!

 

Ich hatte also einen Topf mit gekochten Kartoffeln auf dem Herd und einen inneren Konflikt am Hals. Einerseits wollte ich sagen, dass ich es anders haben möchte als es ist. Andererseits wollte ich auch auf keinen Fall undankbar oder oberkritisch sein. Oder übersetzt in Bedürfnisse: Ich mag gerne Essen gut machen. Es ist für mich ein Weg, meiner Familie zu zeigen, wie sehr ich sie liebe. Gesund zu kochen ist für mich ein Zeichen meiner Fürsorge. Dabei sorgfältig zu sein, in dem ich mich um Schmackhaftigkeit bemühe, erfüllt mir mein Bedürfnis nach Achtsamkeit. (Und falls jetzt jemand denkt: "Mein Gott, es sind doch nur Bratkartoffeln.", dem rufe ich zu: "Ich bin mit einem Kind gesegnet, dessen Essensspektrum siebeneinhalb Dinge umfasst. Selbstgemachte, kleine, knusprige Bratkartoffeln aus Bioanbau sind nahezu der Gipfel an Gesundheit, den ich ihm durch Nahrung zukommen lassen kann! Also, bitte! Urteile nicht, sondern lies weiter!")

Ich möchte in diesen Bedürfnissen gesehen und unterstützt werden und ich möchte mich damit äußern können.

 

Auf der anderen Seite stand eine große Dankbarkeit, warme, liebevolle Gefühle gegenüber dem besten Ehemann von allen, der sich aufgrund einer halb zurück genommenen, schwer zu verstehenden Bitte hingestellt hatte, um Kartoffeln zu kochen, etwas was wirklich nicht weit oben auf seiner Liste von Dingen steht, die er gern macht. Ich wollte das wertschätzen, meine Dankbarkeit zeigen, meine Freude darüber, unterstützt zu werden, ohne viel dafür tun zu müssen, unsere Gemeinschaft feiern, in der wir beide anpacken, um unsere Familie zu versorgen und überhaupt. Ich hatte ihn wirklich sehr gern in diesem Moment und damit auch große Sorge, dass das für ihn nicht fühlbar wäre, wenn ich nun neben "Danke!" auch noch von mir geben würde, was ich gern anders gehabt hätte...

 

Liebe, Fürsorge, Achtsamkeit, gesehen werden, Unterstützung, Dankbarkeit, Wertschätzung, Gemeinschaft,... Ich entschied mich, zu vertrauen. Mir war klar, dass ich tatsächlich ausschließlich die Kartoffeln meinte, wenn ich sagte, was ich möchte, und dort keine versteckte Botschaft à la "Das hättest Du wissen müssen!" lauerte. Dass mein "Danke" absolut ehrlich und vollständig war. Dass es ein Grund zur Freude sein würde, wenn wir das Wissen um die Schönheit und Schmackhaftigkeit kleiner Bratkartoffeln in Zukunft teilen würden.

Also drehte ich mich weg vom Herd und dann sagte ich: "Danke fürs Kochen. Ich nehme immer möglichst gleich große Kartoffeln, damit sie gleichzeitig gar sind. Und ich nehme kleine Kartoffeln für Bratkartoffeln." und er antwortete - "Okay.".

Mehr nicht. Nur: "Okay.". Und auch er meinte es so. Es war für ihn okay. Er hörte keinen Vorwurf, keine Kritik, nur meine Dankbarkeit und eine Info, die er nun für ein nächstes Mal hatte. Puh.

 

Natürlich geht es hier nicht nur um Kartoffeln. Wie lange haben wir gebraucht, an diesen Punkt zu kommen. Dieses Vertrauen zu haben, dass der andere einem nix Böses will, wenn er etwas anders haben möchte. Dass es nicht um Vorwürfe geht, darum, etwas falsch gemacht zu haben oder oder. Sondern einfach nur um ein schönes Bedürfnis.

 

Es war nicht leicht. Die Wolfsohren waren bei uns so ausgeprägt wie bei den meisten anderen Menschen, Angespanntheit dem Partner und seinen Äußerungen gegenüber war bei uns genauso normal wie bei den meisten anderen auch. Aber über die Zeit ist Vertrauen gewachsen, gut gedüngt durch die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Bedürfnisse, Respekt vor dem anderen, Achtsamkeit und Offenheit für das Erleben und die Bedürfnisse des Partners. Ich habe meinen Mann in den letzten Jahren und Monaten immer wieder in neuen Lichtern gesehen. Manchmal gibt es Momente, da geht mir ein ganzer Kronleuchter auf in Bereichen, in denen ich jahrelang im Dunkeln getappt bin (und mir entsprechend oft den Zeh angestoßen habe): "Ach, daaaarum geht es ihm!".

Oder mir. Auch das ist immer wieder sehr erhellend. Ich verstoße meinen Ordungsbeauftragten nicht mehr, sondern weiß es zu schätzen, wie er mit seinen Werten gut für mich sorgt und den Harmonieengel nicht alles unter den Teppich kehren lässt (manchmal im wahrsten Sinne des Wortes :D). Das heißt nicht, dass ich mich auf seine Wortwahl einlasse oder seine doch etwas verkrampfte Haltung eins zu eins übernehme. Aber ich höre sie mir an, übersetze sie für mich und schaue, was ich damit machen möchte. Und bin ihm dankbar, dass er keine Ruhe gibt, bis ich mich auch mit diesen Bedürfnissen gezeigt habe.

 

Das Netz aus Vertrauen, Respekt, Ehrlichkeit und Offenheit hält inzwischen nicht nur große Kartoffeln zwischen kleinen aus, sondern noch ganz andere Dinge. Und dafür hat sich die Mühe gelohnt.



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Kommentare: 3
  • #1

    Carola Nix (Freitag, 07 Mai 2021 19:38)

    Das muss man lernen. Es kommt nicht von allein. Ganz toll!!!

  • #2

    Uschy (Donnerstag, 25 November 2021 14:45)

    Ein wundervoller lebensnaher Beitrag, der spätestens bei Kartoffeln und bestimmt auch bei vielem anderen Dingen übertragen und umgesetzt werden kann. Bilder verankern sich besser im Gedächnis. Vielen Dank für deine Inspiration und mit lieben immer weiter wachsenden Grüßen, bis hoffentlich bald und eine ruhige, besinnliche Zeit für Euch Alle.
    Liebe Grüße Uschy

  • #3

    Uli Michalski (Sonntag, 31 Juli 2022 22:28)

    Ja, ja! rief es in mir beim Lesen.
    So ist das, mit der Harmonie, die ich möchte und dann ist da die Vielstimmigkeit des Lebens. Grmpf.

    Ich habe mich gefreut, diese kleine Geschichte aus dem Alltag zu lesen.
    Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Annehmen, dass es so ist, wie es ist.
    Und wenn ich hinhöre, mir innen zuhöre, dann finden sich Lösungen ... Knoten lösen sich.

    Wie schön, dass Sie diese Geschichte in schriftliche Worte gefasst und veröffentlicht haben.

    PS: Schulz von Thun hat sicher neben Marshall Rosenberg hier beigetragen zu Klarheit, oder? ;-)